Es ist ein Akt der Hingabe, wenn man die Worte eines anderen Menschen von der eigenen Zunge rollen lässt und diese im eigenen Bewusstsein Widerhall finden. Es kommt der Möglichkeit am nächsten, die Welt durch die Wahrnehmung einer anderen Person zu erleben; besonders, wenn die Worte – gesprochen, gesungen oder geschrieben – von tiefem Gefühl durchdrungen sind und aus einer einzigartigen Sichtweise heraus geschmiedet wurden. Dalia Donadios neuestes Werk, ihr Album mit dem Titel Zinnarella (kleines Mädchen), ist eine Reise durch das vielfältige Werk ihres Vaters (Toni Donadio): ein Liederbuch, das 40 Jahre seines Lebens umfasst. Das Album ist teils Klangkunst-Gedicht, teils Hörbuch und eine Meditation über die Bedeutung der Herkunft, die Strukturen der Kultur und die Kostbarkeit der Familie. Es ist ein Wandteppich aus intimen Feldaufnahmen, spärlichen Klavier- und Moog-Arrangements und Dalias warmer, resonanter Stimme. Ganz zu schweigen davon, dass die Geschichte in einem Geflecht aus drei Sprachen erzählt wird: Englisch, Deutsch und Rocchese (ein kalabrischer Dialekt, der nur in Rocca Imperiale gesprochen wird).
„Eine Geste, eine bestimmte Prosodie, eine Art des Kartoffelschneidens, der Geruch von Laub, eine ganz bestimmte Lichtfarbe, eine Art der Umarmung – all diese Details kann ich auf eine Person, einen Ort, eine Kultur und eine Art der Sozialisation zurückführen. Die Beschäftigung mit meinen Wurzeln befreit mich, weil sie mir das Gefühl der Kontingenz näher bringt. Wir alle sind das Ergebnis bestimmter Prägungen und Biografien, und genau das macht die Vielfalt so spannend.“
Die Produktion des Albums begann damit, dass die Künstlerin eine Auswahl von Liedern ihres Vaters traf; sie interessierte sich besonders für die, die er in Rocchese verfasste. Einige von ihnen waren Familienklassiker, andere hörte sie zum ersten Mal. Mit Hilfe ihres Vaters überarbeitete Dalia die Notation und editierte die Texte. Angetrieben von ihrer anhaltenden Leidenschaft für Linguistik tauchte sie auch in die Sprachforschung ein und begann, sich mit den kalabrischen Dialekten zu beschäftigen. Mit Hilfe ihrer Familie (Großmutter und Vater) arbeitete sie an der Perfektionierung ihrer Aussprache: Sie achtete darauf, dass die Farbe und die Nuancen genau richtig waren. Sobald sie die Songs verinnerlicht hatte, erstellte sie eine Skizze des Albums mit Samples, die sie in ihrem Heimstudio collagierte. Die so entstandene Blaupause wurde live getestet und diente schließlich als Grundlage für die endgültige Produktion. Zinnarella wurde im Suburban Sound Studio mit ihrem langjährigen Kollaborateur und Koproduzenten Manuel Egger in etwa acht Tagen aufgenommen. Dalia beschreibt die Session als einen „Abstieg ins Detail“: die Kompositionen schichten, die Arrangements ausarbeiten und sicherstellen, dass jedes Element klanglich auf den Punkt gebracht wurde.
„Die Texte meines Vaters berühren mich, manchmal rühren sie mich sogar zu Tränen. Durch sie kann ich meine Verbindung zur Welt intensivieren, denn seine Worte sind eine Bestätigung – sie thematisieren, wie es sich anfühlt, am Leben zu sein. Indem ich sie umgestalte, erlebe ich mein Leben noch einmal, aber aus einer anderen Perspektive. Bei der Arbeit an diesem Material habe ich die Melodien unangetastet gelassen, aber die Harmonien wurden zu einem Spielplatz für mich. Hier konnte ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen uns erforschen, und dadurch habe ich einen Einblick in die Grundlagen des Musikmachens, der Improvisation und des kreativen Schaffens im Allgemeinen bekommen.“
Zinnarella klingt wie ein Brief, den man jemandem schreibt, den man sehr schätzt und liebt. Es ist auch so etwas wie ein Prüfstein, denn in dem Klanggewebe verwandeln sich die einfachen Dinge, die das Leben ausmachen, in etwas Magisches und Poetisches. Und schließlich ist es ein Dokument dafür, wie es sich für eine Tochter anfühlt, in die Seele ihres Vaters einzutreten. Für uns als Publikum ist es ein Portal zu diesem Gefühl! Und es fühlt sich an, als würde man durch ein schillerndes Spiegelkabinett geführt.
Als Musikerin bedient sich Donadio in ihrer Praxis der Mittel der Stimme und der Sprache. Sie interessiert sich für die Stimme als ein Instrument, das uns allen gehört und uns alle verbindet, zum Beispiel als Mittel der Kommunikation oder als Resonanzkörper. Sprache begleitet Donadio durch so viele Aspekte wie Etymologie, Phonetik und Phonologie, Dialekte, etc. Ihre Werke umfassen Themen wie Ursprung, das Poetische, Poesie, Gewebeschwingung, Anatomie, das Organische, Gesang, Intimes, Vertrautheit, Kontingenz.
Als Sängerin (mit und ohne Elektronik), Komponistin, Texterin, Performerin agiert sie in kleinen Formationen. Die Entwicklung von Soloprogrammen und die Zusammenarbeit mit ihrem Partner Tobias Meier stellen derzeit ihre wichtigsten künstlerischen Arbeiten dar. Auch ihre Arbeit als Organisatorin und Gesangslehrerin versteht sie als integralen Bestandteil ihres Kreativ- und Forschungsfelds.