Zum ersten Mal hörte ich von den Poets of Rhythm an jenem Abend des Jahres 1995, als ich Phillip Lehmann kennenlernte. Phillip sollte später mein Partner bei Desco Records werden, dem Vorgänger von Daptone Records. Als einer der weltweit renommiertesten Sammler von Funk-Platten, hatte er diesem Abend – wie so viele der Abende, die noch folgen sollten – damit verbracht, mich in Erstaunen zu versetzen, in dem er eine Platte nach der anderen auflegte – jede Einzelne davon deeper und rarer als die davor. Irgendwann, spät an diesem Abend, senkte sich die Nadel auf das Poets of Rhythm-Album „Practice What You Preach“. Ich glaube, wir haben uns jede Nummer auf der Platte angehört, und wie jedem anderen Abend auch, blieb mir die Spucke weg, als er mir erzählte, dass die Band, die ich gerade hörte, nicht nur aus Deutschland stammte, sondern die Platte auch noch eine aktuelle Aufnahme war. Bis dahin war jener rohe Soul-Sound, nach dem ich so verrückt war, für mich ein Phänomen vergangener Zeiten gewesen – ein Sound, der von exotischen Sammler gleich Archäologen auf verstaubten und vergessenen Singles und Alben lang zurückliegender Dekaden ausgegraben wurde, oder, was mich persönlich betraf, auf den Funk-Compilations, die sich in den überfüllten Milch-Kästen in meiner Studentenbude stapelten, zu finden war. (Zufällig befand sich auf einem dieser Sampler auch „Augusta Georgia“, einer meiner ewigen Lieblingstracks einer Band namens The Bus People Express, bei denen es sich – wie ich erst später herausfand – ebenfalls um die Poets of Rhythm handelte). Zu diesem Zeitpunkt erschien mir die Möglichkeit, dass diese Musik gar nicht ausgestorben war, wie eine Offenbarung. Es war ein entscheidender Moment auf meinem eigenen Weg dahin, Platten aufzunehmen. In den folgenden Jahren haben die Poets of Rhythm und die Desco-/Daptones-Familie mit gegenseitigem Respekt und großer Begeisterung das Werk des jeweils anderen verfolgt, was schließlich in gemeinsamen Projekten resultierte. Ich hatte die Ehre mit JJ und Max an dem Whitefield Brothers-Album zu arbeiten, das 1998 auf Desco erschien und vor gar nicht so langer Zeit schließlich Practice What You Preach auf Daptone wieder zu veröffentlichen. Als JJ mit der Idee zu uns kam, eine Anthologie über zwanzig Jahre Poets of Rhythm herauszubringen, nutzte ich die Chance unseren Hörern die Band vorzustellen, die mich damals davon überzeugt hat, dass der klassische Soul noch nicht tot ist.
(Bosco Mann)
Die Geschichte der Poets of Rhythm beginnt im Jahr 1984, als die Familie von Bo Baral aus ihrem südafrikanischen Exil nach Deutschland zurückkehrt und Bo auf der Waldorfschule in München anmeldet. Dort lernte er JJ Whitfield kennen und freundete sich mit ihm an. Obwohl in Deutschland damals New Wave und Synth-Pop den Ton angaben, entdeckten Bo und JJ ihre gemeinsame Vorliebe für den amerikanischen Funk der 70er-Jahre. George Clinton avancierte schnell zu ihrem Helden und je weiter sie sich im Schaffensprozess ihres Idols zurückbewegten, desto mehr wurde das Parliament-/Funkadelic-Imperium zur Blaupause ihrer Idealvorstellung von Musik, Kunst und Lebensart.
JJ spielte bereits Gitarre in diversen Schulbands und Bo war nicht nur als Sänger ein Naturtalent sondern auch ein begabter Perkussionist. Nachdem sie von ihrem Ersparten einen Tascam 4-Spur-Rekorder erstanden und sich von Freunden verschiedene Keyboards und Drum-Machines geliehen hatten, vergrub sich das Duo in Whitefields Keller und begann mit Sounds und Arrangements zu experimentieren. Rasch hatten sie die Verbindung zwischen Clinton und James Brown hergestellt – die sich in den frühen 70ern beide der Talente von Bassist William „Bootsy“ Collins bedienten – und schon bald wurde Browns Backing-Band, die JBs, zur neuen Inspirationsquelle.
Zu diesem Zeitpunkt hatte JJ begonnen, als DJ bei Schulfeten und Privatpartys aufzulegen, und die Suche nach neuen Sounds ließ ihn tiefer und tiefer in den Schatzkammern des amerikanischen Funks und alter Soul-Platten aus den 60ern und frühen 70ern graben.
Das Duo stolperte über einen weiteren- ihrer größten Einflüsse als Clinton- in einem Fanzine-Interview, in dem The Meters als die einzige Band bezeichnet wurde, die „funkiger als Funkadelic seien“. Der Sound von New Orleans sollte einen bleibenden Eindruck bei den beiden hinterlassen. Die minimalistischen Quartett-Arrangements der frühen Meters – als Gegenentwurf zu den üppigeren Band-Sounds von James Brown und Parliament – wurden zu einem essenziellen Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung eines eigenen Band-Formats. Als Schulkameraden an Bass und Schlagzeug einsprangen, begannen in JJs winzigem Keller die Songwriting- und 4-Spur-Aufnahme-Sessions. Sie nannten ihre Band Hotpie & Candy – ein Name, den sie später als Label-Name für ihre selbstproduzierten und –vertriebenen 7“-Singles benutzten.
In Folge ihres nicht zu stillenden Hungers nach neuen Klängen begannen Bo und JJ immer mehr Energie ins Sammeln von Schallplatten zu stecken und im Dezember 1991, als beide ihren Zivildienst beendet hatten, unternahmen sie ihren ersten Digging-Trip in die USA. Eine scheinbar endlose Greyhound-Fahrt brachte sie von New York nach New Orleans. Die Sounds die sie in dieser Stadt entdeckten, die für sie der Geburtsort der modernen Musik war, traf bei den jungen Sammlern einen Nerv. Auch wenn es sich als deutlich schwerer als erhofft herausstellte, die Meters-Diskografie zu komplettieren, gab es Unmengen obskurer 45er lokaler Künstler und Labels zu entdecken: The Gaturs, Salt, Bob French, Wild Magnolias, diverse Eddie Bo Produktionen, ganze Label-Kataloge von Scram, Seven B und Jenmark. Jeden Tag Live-Musik zu hören und ein aufwühlender Besuch in den Sea-Saint Studios, wo viele ihrer Lieblingsplatten aufgenommen worden waren, zementierten den gewaltigen Eindruck, den New Orleans bei dem Duo hinterließ.
Achtzehn Monate später begannen der Schlagzeuger und der Bassist ihr Studium und verließen die Band. Nach nur einer Handvoll Gigs lösten Hotpie & Candy sich auf. Bo und JJ heuerten neue Musiker an – darunter auch Mx „Muggy“ Whitefield, der die Drums übernahm und schon bald das dritte Stammmitglied jenes Songwriter- und Produzenten-Triumvirats werden sollte, dass sich bis auf weiteres The Soul-Saints nannte. JJs jüngerer Bruder hatte von Anfang an wann immer er konnte im Keller während der Sessions rumgelungert und die Musik und den Style der beiden Älteren aufgesogen wie ein Schwamm. Sein ausgeprägtes Rhythmusgefühl machte ihn für den Sound der Poets schnell unentbehrlich. Am Bass stieß Jan „Curly“ Krause dazu, der als Ton-Ingenieur im Paradise Studio jobbte, einem lokalen Aufnahmestudio, betrieben von der Disco-Ikone Jürgen Koppers, das praktischerweise immer noch schwerem 70er-Analog-Equipment ausgerüstet war. Mit dem Hinzukommen von Malte Müller-Egloff am Saxofon, Michael „Treetop“ Voss an der Trompete, Tobias Rosefeld an der Orgel (der schon bald von Till „Sjan“ Sahm ersetzt wurde) und Florian Keller an den Congas nutze die Gruppe den Vorteil, den Krauses Job ihnen bot und nahm ihre erste 7“ „Funky Train/Hotpie’s Popcorn“ im Paradise auf. 1992 veröffentlichten sie die Single in Eigenregie via Hotpie & Candy Records und benannten sich in The Poets of Rhythm um.
Nur Wochen nach der Veröffentlichung verirrte sich eine der Singles nach Hamburg und landete in den Händen von Soulciety Records, die die Poets auf der Stelle unter Vertrag nahmen. Ihre erste Langspielplatte „Practice What You Preach“ nahm sie in einem leeren Hinterzimmer auf (mit den Paradise Studios hatten sie vorerst gebrochen) in nur sieben Tagen auf einer 8-Spur-Viertelzoll-Maschine auf und veröffentlichten sie im Frühjahr 1993. Mit seinem rohen Sound und diesem Früh-70er-Touch des Songwritings und der Produktion war das Album ein Schlag ins Gesicht der überproduzierten digitalen Ästhetik des europäischen Radios – wurde aber von der Rare Goove Crowd, die sich auf der Suche nach Floor Fillern zunehmend auch dem frühen Funk zuwendete, überaus wohlwollend aufgenommen.
Die folgenden Jahre verbrachten die Poets damit ihr Debüt-Album intensiv zu betouren und sowohl als Trio in ihrem Keller wie auch als ganze Band in größeren Studios aufzunehmen. Allerdings führten Unstimmigkeiten in Marketing- und Rechnungsfragen dazu, dass die Band sich weigerte neues Material unter dem vertraglich an das Label gebundenen Namen Poets of Rhythm aufzunehmen. Das Ergebnis war einen Reihe selbst veröffentlichter Singles unter so farbenfrohen Pseudonymen wie Bus People Express, Organized Raw Funk, The WooWoos, Soul Saints Orchestra, Bo Baral’s Excursionists of Perception und The Pan-Atlantics. Die limitierten Auflagen trafen auf dankbare Abnehmer unter den Sammlern und DJs der neu erblühenden Depp-Funk-Szene, allen voran dem schottischen Pionier Keb Darge. Schließlich willigte man ein, den 3-Alben-Deal mit Soulciety zum Abschluss zu bringen, in dem man die gesammelten Singles als „Hotpie & Candy“-Label-Compilations („Original Raw Soul Vol. 1 & 2“ – 1995/1997) veröffentlichte. Mit Ausnahme einer kurzen Exkursion ins Disco-Genre unter de Namen Syrup arbeiteten die Poets an keinem weiteren Studio-Album, bis sie 1998 ins Paradise Studio (das inzwischen in J.K.’s Mastermix umbenannt worde war) zurückkehrten. Diesmal auf Wunsch desneu gegründeten New Yorker Labels Desco Records.
Desco wurde geleitet von Gabe Roth und Phillip Lehman, die JJ aus Plattensammler-Kreisen kannten und erklärte Fans des Poets-Sounds waren. Lehman hielt die Band für die perfekte Ergänzung des Heavy Funk Konzepts ihres Labels. Allerdings entwickelten sich die Aufnahmen aufgrund veränderter Interessen des Soul-Saints-Produktionsteams schwieriger als erwartet. Afrikanische Musik und Jazz waren inzwischen wichtige Inspirationen, was zu künstlerischen Differenzen bei der Studioarbeit führte. Das Ergebnis war eine deutlich ätherischere und psychedelischere Herangehensweise an Funk als früheres Material und nach dem Hören der Roughmixe lehnte Desco das Album ab.
Nachdem sie ihr Line-Up um Keyboard-Wizard Thomas Myland ergänzt hatten, schlossen die Poets of Rhythm die Aufnahmesession schließlich mit einem weiteren Overdub ab. Als Discern/Define 2001 dann auf DJ Shadows Label Quannum Records doch noch veröffentlicht wurde, erhielt das Album glänzende Kritiken und machte die Poets of Rhythm erstmalig einem größeren Publikum bekannt. Nach zwei kurzen England-Touren um das Album zu bewerben zerbrach die Band in verschiedene Projekte, die in diversen personellen Zusammensetzungen die unzähligen musikalischen Interessen der Beteiligten verfolgen.
Heutzutage ist der Soul der 60er- und 70er-Jahre als Inspirationsquelle so gefragt wie nie. Verzerrt und verdreht hört man seinen Einfluss in Form plumper Imitationen im Dudelpop des Mainstream-Radios und in der TV-Werbung. In den frühen 90ern allerdings, einer Zeit, in der die meisten von uns entweder depressiven Grunge-Lärm oder gekünstelten Pseudo-Soul in den Ohren hatten, buddelten ein paar deutsche Kids in amerikanischen Hinterhöfen einen rohen Sound aus, den man dort schon so gut wie vergessen hatte. Obwohl sie eine Zeit lang in Schlaghosen und Pelzmänteln einer geborgten Nostalgie frönten, pflegten sie einen Stil, der Trends setzte, statt diesen aufzusitzen. Sie bedienten sich alter Funk-Scheiben, nicht als Blaupausen sondern als Inspiration, wohlwissend, dass gewisse Sounds immer ein Ausgangspunkt ihrer Musik bleiben würde, aber im Gegensatz zu vielen Soul-Revivalisten, gaben sie sich nie damit zufrieden, in ihnen auch noch Ziel und Erfüllung zu sehen.
Zwanzig Jahre nach ihrer ersten Aufnahme-Session zelebriert diese Anthologie ihre Jahrzehnte währende Reise von der rohen, unbändigen Rebellion eines Songs wie „Funky Train“, über das atmosphärische, hypnotische „Discern and Define“- eine Reise, mit der sie sich ihren Namen mehr als verdient haben: The Poets of Rhythm.
ANTHOLOGY 1992-2003 WURDE IM OKTOBER 2013 VERÖFFENTLICHT