Wohl kaum eine Episode im Leben des Charles Bradley fasst das Jahr 2012 so gut zusammen, wie der Abend, an dem er und seine Band The Extraordinaires im texanischen Städtchen Utopia auftraten, um eine Open-Air Show inmitten eines Gewittersturms zu spielen. “Es hörte gar nicht mehr auf zu regnen”, erinnert sich Bradley. Ich trat hinaus auf die Bühne, und da standen rund 800 Menschen – vielleicht sogar mehr – und alle standen sie im strömenden Regen und im Matsch.” Die Band tat ihr Bestes, um gegen die Elemente anzuspielen, aber – zumindest einen Moment lang – sah es ganz so aus als hätte sogar der große Charles Bradley der Natur nichts entgegenzusetzen. Etwa nach der Hälfte der Show fiel der Strom aus und ließ sowohl Band als auch Publikum völlig durchnässt in der Dunkelheit zurück.”
Bei jedem anderen Konzert, hätte man das als unmissverständliches meteorologisches Zeichen gedeutet, es gut sein zu lassen, aber wenn es eines gibt, was dieses Jahr unermüdlichen Tourens vor begeisterten Zuschauern bewiesen hat, dann, dass Charles Bradleys Shows eben nicht sind wie “jedes andere Konzert”. “Ich konnte sie hören”, grinst Bradley, “sie riefen »Charles Bradley! Charles Bradley, wir lieben dich!«. Als also das Licht wieder anging, sagte ich, »Wenn ihr alle da draußen im Regen stehen könnt, nass bis auf die Knochen, um mich auftreten zu sehen, um zu sehen, wie ich etwas mache, das ich mehr als alles liebe, dann – wißt ihr was? Dann will ich auch naßwerden!” Und mit diesen Worten sprag er von der Bühne ins Publikum. “Sie drehten völlig durch!”, kichert er. “Wir lachten. Wir umarmten uns. Irgendwann waren wir alle über und über mit Schlamm beschmiert. Es war nichts als reine Liebe.”
Eine einzige, winzige Szene, die sein ganzes Wesen beschreibt: Charles Bradley, Victim of Love – ein Opfer der Liebe. Andere Künstler schätzen ihr Publikum, viele sind ihm dankbar, aber nur wenige lieben ihre Fans so sehr und so innig wie Charles Bradley. Sein bemerkenswerter Werdegang, gegen sämtliche Widerstände ist längst wohldokumentiert – sein trostloses Leben auf der Straße, wie er sich mit unzähligen miesen Jobs aus der Obdachlosigkeit herauskämpfte – unter anderem als James Brown-Impersonator – bis er schließlich von Daptones Gabe Roth entdeckt wurde. Im Jahr nach Veröffentlichung seines Debütalbums No Time for Dreaming folgte ein Triumph auf den anderen: ein überwältigender Auftritt auf der South By Southwest, der überschwängliche Kritiken erntete, nicht minder packende Shows auf renommierten Festivals wie Bonnaroo, Austin City Limits und Outside Lands und Platzierungen in den Jahres-Bestenlisten von Rolling Stone, SPIN, GQ, Paste und vielen mehr. Victim of Love, Bradleys zweites Album, schreibt diese Geschichte fort, führt weg von Herzschmerz und Unglück und nähert sich dem Versprechen der Hoffnung.
“Sein erstes Album beschränkt sich auf zwei oder drei Gefühlslagen”, erklärt Thomas Brenneck von der Menahan Street Band, Bradleys Produzent, Bandleader und Co-Writer. “ Aber die emotionale Bandbreite auf dieser Platte ist riesig. Das Debüt wurde von einem Mann geschrieben, der die letzten zwanzig Jahre in den Sozialbausiedlungen Brooklyns verbracht hat. Diese Platte ist mehr als bloß der Aufschrei eines armen Getthobewohners. Dieses Mal, ist er dankbar.” Bradley stimmt ihm zu. “Ich habe über all das Elend gesungen, das ich durchlebt habe. Jetzt wollte ich mehr. Es war mir wichtig, dass die Menschen zuerst erfahren, wie sehr ich kämpfen musste, aber jetzt möchte ich ihnen sagen, wie sehr sie mir geholfen haben, über mich hinauszuwachsen.”
Ganz egal an welcher Stelle sie Victim of Love anspielen, diese Botschaft ist sofort gegenwärtig. Wo das letzte Album mit dem apokalytischen “The World (is going up in Flames)” öffnete, beginnt Victim damit, dass Bradley mit seinem Mädchen ins Auto steigt, um eine romantische Ausfahrt auf dem Highway zu unternehmen. In “Put the Flame on me” singt er “My Life is Gold – you put the Flame on it” – untermalt von einem Bläsersatz der klingt, wie von einer vergessenen Four Tops-Single entlehnt. Und auf dem Song, dem die Platte ihren Namen zu verdanken hat, singt er die Zeilen “I woke up this Morning, I felt your Love beside me” zu den Klängen einer sanften Akustikgitarre, wie sie auch auf einem klassischen Neil Young-Album nicht fehl am Platz gewesen wäre.
Was uns zu einem weiteren Punkt bringt: die thematische Veränderung brachte auch eine Ausweitug des musikalischen Spielfeldes mit sich. Wo Dreaming sich noch eng an jenem ungeschönten R&B-Sound orientierte, für den Daptone Records bekannt ist, zeichnet sich Victim durch eine größere stilistische Rastlosigkeit aus, wagt sich näher die Sorte psychedelischen Souls heran, den The Temptations Anfang der 70er für sich entdeckten. “Ich habe es »New Direction Daptone« genannt”, begeistert sich Brenneck. “Es wird so einige Erwartungshaltungen brechen. Auf dem Album gibt es eine Menge psychedelischer Elemente, viel Fuzz-Gitarre. Ich erweitere die Grenzen der Band und der Arrangements, was Charles widerum zwingt, über seine Grenzen hinaus zu gehen.”
Am auffälligsten wird diese neue Richtung in “Confusion”. Mit jenen Halldurchtränkten Vocals und der elektrisierenden rhythmischen Kadenz beginnend, die charakteristisch für Curtis Mayfields “If there’s a Hell below, we’re all goingt to go” war, beschwört Bradley das Feuer auf korrupte Geschäftsleute und heuchlerische Politiker herab. “Dieser Song ist all jenen Politikern gewidmet, die glauben, sie könnten für alle anderen entscheiden”, sagt Bradley. “Die da oben denken, sie könnten die Regeln für uns festlegen. Aber die meisten von denen haben die Härten des Lebens niemals zu spüren bekommen. Sie haben keinen Schimmer, wie das ist. Also versuche ich zu den Menschen zu sprechen, die damit zu kämpfen haben.” Wie es für Bradley typisch ist, kommt der Song nicht als grollende Hiobsbotschaft daher, sondern als tief empfundene Mitgefühlsbekundung für jene ganz unten.
Wenn das Album aber so etwas wie eine exemplarische Aussage enthält, dann findet diese sich wohl in “Through the Storm”. Über einen innbrünstigen Gospelgroove bekundet Bradley seine Dankbarkeit – gegenüber seinen Fans, seinen Freunden und Gott – für ihre Unterstützung und ihre Hingabe. “When the world gives you love”, singt er, “it frees your soul”. Das ist die neue Botschaft des Charles Bradley, jenes Charles Bradley, den Leid und Schmerz stärker und zuversichtlicher gemacht haben, überfließend mit Liebe, die geteilt werden will. Das ist Charles Bradley, Victim of Love – wie er voller Dankbarkeit jene Freuden zurückgibt, die ihm zuteil wurden.
“Es geht allein darum, was du gibst”, sagt Bradley, und betont dabei das letzte Wort. “Es ist egal, was für ein guter Sänger du bist. Es ist egal, wie viel Talent du hast. Wenn du etwas gibst, und die Menschen spüren, dass du ihnen etwas gibst, dann bist du gesegnet.”
“Charles besitzt mehr Spiritualtität als du und ich zusammen”, sagt Brenneck. “Seine Botschaft lautet »Ich habe das selbst durchgestanden. Ich weiß, was du durchmachst. Und wenn ich das schaffen kann, dann kannst du das auch.« Jeden abend, wenn er von der Bühne geht, zweifelt er, ob er wirklich genug gegeben hat. Ich sagen dann, »Charles, wenn du auch nur einen Tick mehr gegeben hättest, hättest du einen Herzinfarkt bekommen.”
“Alles, was ich der Welt zeigen wollte, ist die Liebe, die ich zu geben habe”, sagt Bradley. “Ich hoffe, wenn mich ansieht, sieht man einen Menschen, der so auf diesem Planeten wandelt, dass Gott, wenn er ihn heimruft, zu ihm sagt: »Gut gemacht, mein Sohn.« Wenn Gott erkennen kann, das ich so geliebt habe, wie Er uns liebt – dann habe ich alles in meinen Kräften liegende getan. Und dafür kämpfe ich.”