Die Welt scheint außer Kontrolle zu geraten. Da kann Musik manchmal ein Rückzugspunkt sein, vielleicht sogar so etwas wie Erlösung anbieten.
In solch transzendentalen Gefilden spielt sich Okonkolo ab: Santería-Musik der Yoruba, wie sie noch nie gespielt wurde. Okonkolo versetzt den Hörer in andere Welten und lädt zum Tanz mit Göttern jenseits unserer Vorstellungskraft ein, zusammengehalten von Rhythmus, Leidenschaft und musikalischem Können.
Die Band ist das Lebensprojekt von Abraham „Aby“ Rodriguez aus New York, der Schlagzeuger und yorubischer Shango-Priester ist. In aller Stille veröffentlichte seine Gruppe 2016 bei Big Crown die wunderschöne EP „Rezos“. Nun kehrt sie mit einem Longplayer zurück, der der Welt noch mehr hypnotische Beschwörungen schenkt.
Die neun Songs auf „Cantos“ gleichen religiösen Epiphanien und folgen alle einem ähnlichen Pfad, an dessen Ziel transzendental hypnotische Musik steht. Wie bei ritueller Santería-Musik stehen auch hier die Trommeln im Mittelpunkt der Zeremonie, vor allem die Báta und die Coro. Bei Okonkolo werden sie von Rodriguez, Gene Golden und Xavier Rivera gespielt. Mit diesen Rhythmen als Grundierung kommt der Gesang auf Yoruba von Aby und den starken Stimmen von Amma McKen und Jadele McPherson besonders zur Geltung.
Nicht unbedingt musikalisch, aber auf jeden Fall konzeptionell erinnert „Cantos“ an andere Künstler und Alben, die mühelos die Balance zwischen heiliger und weltlicher Herrlichkeit halten, an die Musik von Nusrat Fateh Ali Khan und Ravi Shankar, an „Journey in Satchidananda“ von Alice Coltrane und viele andere Klassiker der letzten 50 Jahre. Diese Alben begeistern ihre Hörer, weil sie weitaus mehr sind als anspruchsvolle Unterhaltung.
Während der Reise auf „Cantos“ lassen sich musikalische Spuren aus der ganzen Welt erkennen, aus Afrika, Südamerika, der Karibik und sogar New York. Zum musikalischen Kern, der Percussion und dem Gesang, die Teil jeder traditionellen Santería-Zeremonie sind, kommen viele andere Elemente und Schichten, wie die jazz-nahe Instrumentierung mit Bläsern, Bass, Gitarre und sogar schwelgerischen Streichern. Diese zusätzlichen Sounds kreierte Gitarrist und Produzent Jacob Plasse, der die Gruppe vor mehr als zehn Jahren zum ersten Mal gehört und das Projekt zu Big Crown gebracht hat.
In unserer Hemisphäre wird Santería und die spirituelle Musik der Yoruba vor allem mit Kuba und vielleicht noch mit Bahia in Brasilien in Verbindung gebracht. Aber Rodriguez passt nicht in diese Schublade: „Ich bin Amerikaner“, sagt er mit stolzem Lächeln. „Ein Puerto Ricaner aus New York. Die Kubaner, die ich kenne, fragen immer: ‚Wie kannst ausgerechnet du das spielen? ’Ich antworte dann immer. ‚Frag nicht mich, frag Gott’“.
Die Santería-Religion überlebte den Sklavenhandel und die Verschleppung von Afrika auf die Solaren und landete schließlich in New York, wo Einwanderer aus der Karibik sich in den Barrios der Bronx und von Brooklyn ein besseres Leben erarbeiten wollten. In New York traf Aby Rodriguez auch zum ersten Mal auf Plasse. „Wir haben uns in den frühen Neunzigern kennengelernt, als wir beide im Plan B in der Lower East Side Salsa-Gigs spielten“,erinnert sich Plasse. „Nach ein paar Malen sagte Aby zu mir, ich solle nächste Woche etwas später kommen, weil der erste Teil der Show anders werden würde. Natürlich bin ich stattdessen früher gekommen, um zu sehen, was ich verpassen würde! Da stand Abraham auf der Bühne und führte einen Tambor für Shango auf. So etwas hatte ich noch nie gesehen, auch wenn ich auf Kuba bei ein paar großartigen Tambors dabei gewesen war. Aber was Aby machte, war ganz anders. Eigentlich klassisches Báta-Repertoire, aber mit so einem subtilen New Yorker Doo-wop-Groove. Und das in einem Salsa-Club! Schön und einzigartig. Ich wollte unbedingt mit ihm zusammenarbeiten, auch wenn ich zehn Jahre warten musste“.
Auf „Cantos“ finden sich gleich mehrere Beispiele dafür, wie diese musikalische Mischform die Hörer auf einzigartige Weise bewegen kann. Wie auf „Yemaya“, wo gezupfte Gitarren sich in Sul pont-Texturen auflösen. Während die Bátas immer intensiver werden und das Arrangement in Gitarren und absteigende Klarinettarpeggios mündet, bringt Nick Movshons treibender Bass das Stück zu seinem Höhepunkt. Oder „Canto Asoyin“, wo aus einem imaginierten Santería-Stax-Crossover ein rumorender Gitarren-Refrain wird, bevor sich alte und neue Musiktraditionen Nigerias im Highlife zuzwinkern.
„Ochun“ wird erst von Abraham und dann von Amma McKen gesungen. Beide Versionen entwickeln auf ihre Weise im Stillen einen unheimlichen Sog. Ammas Einspielung beginnt mit einem etwas unheilvollen Piano, um dann einen Soca-Riff mit Cellos und Violinen zu konterkarieren, mit abschließendem Decrescendo in Tremolos von Bariton-Saxophonen und Violas. „Der Song ist wie besessen. Durch uns fließt positive Energie. Es ist eine Art von Sprache, und sehr heilig“ erklärt Amma. Und dann gibt es noch „Obatala“, mit einem exquisiten Breakdown, bei dem Pizzicato-Geigen, Violas und Cellos den Klang der verschiedenen Trommeln eines Báta-Ensembles imitieren.
Vielen Hörern werden diese vibrierenden Arrangements und ihr manchmal seltsamer Kontrast mit Orisha-Musik zuerst kaum auffallen, so sehr werden sie von der Musik in andere Sphären transportiert. Erst beim genaueren Zuhören wird deutlich, wie raffiniert diese uralten Lieder verschoben und neu interpretiert werden, und wie sie geisterhaft zwischen den Welten schweben – wie die Orishas selbst.
OKONKOLO – CANTOS erscheint am 27. Juli 2018 bei Big Crown Records im Vertrieb von Groove Attack / The Orchard.
Tracklist
01 Yemaya.mp3
02 Canto Asoyin.mp3
03 Wolenche Por Chango.mp3
04 Oba.mp3
05 Ochun.mp3
06 Canto Por Obatala.mp3
07 Canto Por Ochun.mp3
08 Obatala.mp3
09 Elegua.mp3