Laura Marling ist in letzter Zeit ziemlich viel Bus gefahren, von ihrem Haus in North London durch die halbe Stadt bis zur British Library. Eine lange Fahrt, mit vielen Haltestellen und Verkehr, aber für Laura die perfekte Gelegenheit, in ihr Tagebuch zu schreiben. „Aber ich hadere damit, selbst im Mittelpunkt zu stehen“, sagt sie. „Es fällt mir schon schwer, ‚ich‘ zu schreiben.“
Dabei scheint das Thema Laura Marling doch gar nicht so komplex zu sein: sechs Alben, für Grammy und Mercury nominiert, Brit Awards, ein gerader Pfad aus der Kindheit in Berkshire hinein in die Nu-Folk-Szene der Nuller Jahre und inzwischen eine renommierte und bekannte Musikerin. Aber auch, wenn es merkwürdig klingt: Laura Marling ist nicht unbedingt die, für die sie gehalten wird.
Bei Erscheinen ihres ersten Albums „Alas, I Cannot Swim“ war sie gerade einmal 18. Die Alben danach, wie „I Speak Because I Can“ von 2010 hin zu „Semper Femina“ von 2017, zeigten eine junge Songwriterin, die ihre Identität und ihr Handwerk erforscht. Auch ihre Stimme, so geschmeidig und hypnotisierend, entfaltete sich weiter: Sie wurde reicher, härter, bei Bedarf auch verrauchter, während die Songs von Weisheit und Weltläufigkeit und Weiblichkeit erzählten. Aber für viele blieb Marling immer die naive Folksängerin mit klarer Stimme, die sie am Anfang ihrer Karriere gewesen war.
Inzwischen ist sie 30 und eine ganz andere Laura Marling, wie sie auf ihrem siebten Album „Song For Our Daughter“ beweist: eine Künstlerin mit komplexen Talenten, mit vielen Interessen und großem Können, einfach eine einzigartige musikalische Stimme.
Die Arbeit an diesen außergewöhnlichen neuen Songs begann nach der Tour zum Vorgängeralbum „Semper Femina“, als Marling ihr Label und ihr Management verließ und zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht wusste, was die Zukunft bringen würde.
Also entschied sie sich für das Unerwartete: Sie arbeitete mit dem Theaterregisseur Robert Icke zusammen; sie gründete mit Mike Lindsay von Tunng das Duo Lump, das ein Album voller dissonanter melodischer Schönheit aufnahm und auf Tour ging. Dann schrieb sie sich für ein Masterstudium in Psychoanalyse ein.
Eine Weile lang erwog sie sogar, den Namen Laura Marling abzuwerfen, all die Assoziationen und Erinnerungen, und etwas Neues auszuprobieren. Die Songs nach „Semper Femina“ fühlten sich für sie „wie Neufassungen alter Sachen an – wie Schriftsteller, die nur ein einziges Buch immer wieder schreiben“. Also verlangte sie von sich selbst, die Grenzen ihres Ichs zu erkunden. „Das war tatsächlich ein sehr schmerzhafter Prozess“, sagt sie. „Es ist das erste Mal, dass ich mich anstrenge, mit jedem Song etwas Neues zu sagen“.
Diese Erkundungen, vor allem ihre kreative, experimentelle Zusammenarbeit und akademischen Studien, haben sie befreit. In den nächsten zwölf Monaten erscheint auch ein neues Album von Lump, und Marling sagt, dass sie ihren neuen Zugang zum Songwriting der Arbeit mit Mike Lindsay zu verdanken habe. „Lump ist für mich ein völlig anderer musikalischer Raum“, sagt sie. „Ich schreibe die Songs aus einer ganz anderen Perspektive, und die Ergebnisse überraschen mich jedes Mal selbst“.
Lindsay und sie sind, wie sie sagt, „das genaue Gegenteil“, aber dieser Zusammenstoß funktioniert wunderbar: „Der Kontrast ist sehr wichtig. Wir sind natürlich Freunde, aber wir sprechen selten über wirklich tiefschürfende Dinge. Ich würde sogar sagen, dass wir uns nicht besonders gut kennen“.
Befreit ist sie auch von den präzisen und klaren Erzählungen ihrer bisherigen Solosongs: „Für das neue Album haben wir meistens den ersten Take verwendet, also stolpere ich manchmal über Wörter, und das prägt dann den Gesang“. Die Texte auf dem kommenden Album von Lump werden diese Idee noch weiter verfolgen: „Das ist alles sehr von der Psychoanalyse beeinflusst. Diese Sprache ist so schön, weil sie so distanziert ist“.
Inzwischen ist sie auch sesshaft geworden. Nach vielen Jahren auf Tour, mit längeren Zwischenstopps in den USA und an der Südküste, ist sie jetzt nach London zurückgekehrt: Nur eine Straße weiter leben ihre älteste Schwester und ihre Nichte, ihre andere Schwester wohnt bei ihr. Ihr Leben, sagt sie, sei gerade sehr bequem, und sie ist in einer funktionierenden langjährigen Beziehung.
Vielleicht ist es gerade diese Zufriedenheit und dieses Angekommensein, das Marling erlaubt, nicht mehr nur autobiografische Songs zu schreiben. „Mir fällt es schwer, das genau zu sagen, aber ja, dieses typische ‚Ich‘ fehlt vermutlich. Ich spüre, wie mich viele Menschen um mich herum anschauen. Es gibt ein schönes Zitat von Henry Miller, als er am Ende seines Lebens nicht mehr schreiben wollte und stattdessen gemalt hat: ‚Für mich war die Malerei das einzige Medium, mit dem ich Menschen nicht verletzen konnte‘. Als ich das gehört habe, dachte ich nur: Yep, so geht‘s mir auch“.
Stattdessen erzählt sie jetzt andere Geschichten, oder Geschichten anderer, und reichert diese Erzählungen mit persönlichen Erfahrungen an. „Ein Song wie ‚Hope We Meet Again‘ ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als ich noch sehr glücklich alleine die Welt bereiste“, erklärt sie. „Mit ‚The End of the Affair‘ ist es ganz ähnlich – die Vorstellung, dass Liebe ewig hält, sich in alle Richtungen ausbreitet und einfach so mächtig ist. Ich finde es tragisch, um diese Liebe zu trauern, so etwas Großes, das mit niemandem geteilt werden kann“.
Marling hatte gerade Graham Greenes Roman gleichen Namens gelesen. Auch einige andere Songs sind Antworten und Reaktionen auf andere Werke. „Alexandra“ ist zum Beispiel eine halbe Hommage an „Alexandra Leaving“ von Leonard Cohen, dessen Einstellung zu Frauen Marling fasziniert. „Er schreibt auf so wunderschöne Weise über Frauen. Es stört mich nicht, dass er so gelebt hat, wie er gelebt hat. Ich halte das sogar für mutig“.
„Only the Strong“ borgt sich eine Zeile („love is a sickness cured by time“) bei Robert Ickes Stück „Mary Stuart“ aus, für das Marling die Musik komponiert hat. „Meine Art des Textens hat sich geändert, seit ich Robert kenne. Ich kann es nicht wirklich erklären, aber es war interessant zu sehen, wie das Gehirn dieses Autors und Regisseurs auf Rhythmus reagiert. Ihm liegt viel an geraden, direkten Reimen. Mir ist der Rhythmus von Sprache inzwischen sehr wichtig“.
Trotzdem ist „Song For Our Daughter“ in großen Teilen ein intimes Album, wie das Titelstück zeigt: eine grazile und trotzdem trotzige Komposition über „zu früh geraubte Unschuld, was in meinem Leben überhaupt ein wichtiges Thema ist, und die Hoffnung, die nächste Generation davor zu schützen“. Beim Schreiben musste sie weinen.
Fortune ist „vermutlich einer der besten Songs, die ich je geschrieben habe“, sagt sie. Die Idee kam ihr nach einem Gespräch mit ihrer Mutter, die immer etwas Geld „zum Weglaufen“ gespart hatte. „Diese Generation war irgendwie fast tragisch machtlos beim Versuch, sich etwas Freiheit zu erkämpfen“. Der Song begann in ihrer Küche, mit ihrem Vater, einer Akkordfolge und ein paar purzelnden Textstücken. „Diesen Prozess darf niemand sehen, nur mein Vater. Er war echt beeindruckt, das war eine süße Reaktion. Deswegen liegt mir der Song sehr am Herzen“.
Der letzte Song des Albums, „For You“, ist ähnlich entstanden, zu Hause mit ihrem Freund an der Gitarre. Es ist ein einfaches, unwiderstehliches Liebeslied, die Version auf dem Album ist die ursprüngliche Demoaufnahme.
Laura Marling war selbst davon überrascht, wie das enge Zusammenleben mit anderen ihr eigenes Verhältnis zu Sound und Musik verändert hat. Zum ersten Mal musste sie darauf verzichten, für längere Zeit alleine sein zu können. Ihre häufigen Ausflüge in die Bibliothek dienen auch dazu, etwas Stille genießen zu können.
Sie hat sich in ihrem Keller ein eigenes Studio eingerichtet, wo sie viel Zeit mit Sound-Experimenten verbringen kann. Von Blake Mills, der mit ihr zusammen „Semper Femina“ produziert hat, hat sie gelernt, „wie viel in einem einzelnen Klang stecken kann“, was sich auch in ihrer Arbeit mit Lump niederschlägt. Dort setzt sie ihre Stimme oft wie ein Instrument ein.
Nachdem sie 2014 ihr Album „Short Movie“ selbst produziert hat, gewann sie mehr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten. Obwohl „Song For Our Daughter“ wieder von Ethan Johns koproduziert wurde, ist das Album doch komplett nach ihrer Vision ausgerichtet. „Ich habe viele Demoaufnahmen gemacht und viel geschnitten und neu bearbeitet. Alle Arrangements stammen von mir, ich wusste, welche Musiker ich wollte. Ich habe das Album zusammen mit Dom [Monks, der bereits an anderen ihrer Alben gearbeitet hat] abgemischt. Und der gesamte Hintergrundgesang ist bei mir zu Hause aufgenommen, weil ich keine andere Meinung hören wollte!“.
Der Sound ist üppiger als ihre bisherigen Alben, schwelgerischer und mit vielen Streichern, von Rob Moose (Antony and the Johnsons, Bon Iver, The National) beigesteuert. „Ich wollte das voll auskosten und habe ihn einfach machen lassen“, sagt sie. Ihr schwebte ein geräumiger Sound wie bei Lump vor, „sich wirklich in einer eigenen akustischen Welt befinden, statt nur von außen zuzuschauen, oder wie ein gutes Album von Bill Callahan, bei dem es sich anfühlt, als säße er im Zentrum deines Gehirns“.
Songs wie „Held Down“, „Blow By Blow“ und „For You“ sind überraschend poppig. „Ich bin spät zu Paul McCartney gekommen. Ich war immer eher der Lennon-Typ, und hatte ein total oberflächliches Bild von McCartney im Kopf, gefärbte Haare und Chucks. Ging gar nicht. Aber dann habe ich mir seine Solo-Sachen angehört und merkte sofort, wie falsch dieser Eindruck war. Die Musik ist voller kleiner Sachen, kleiner Gefühle, die mich erwischen“. Deswegen ist „Blow By Blow“ ihre Hommage an ihn. „Ich wollte ein bisschen einfacher schreiben, und am Klavier fällt mir das leichter, weil ich es sehr schlecht spiele. Deswegen muss ich es simpel halten“.
Nach Jahren der Neuorientierung wird dieses Jahr für Laura Marling also einen Wandel einläuten: zwei neue Alben, Touren, Auftritte bei Festivals, und wahrscheinlich noch viel mehr Zusammenarbeit, Experimente und Solo-Abenteuer. „Ich wollte einfach mit diesem Album fertig werden, damit ich sechs Monate auf Tour gehen kann. Darauf freue ich mich echt“. Sie gewöhnt sich wohl doch daran, wieder im Mittelpunkt zu stehen.
TRACKLIST
01. Alexandra
02. Held Down
03. Strange Girl
04. Only The Strong
05. Blow By Blow
06. Song For Our Daughter
07. Fortune
08. The End Of The Affair
09. Hope We Meet Again
10. For You
KÜNSTLER: LAURA MARLING
ALBUM: SONG FOR OUR DAUGHTER
VÖ: 10. FEBRUAR 2020 (digital)
LABEL: PARTISAN/CHRYSALIS
VERTRIEB: PIAS
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