Die großen Momente
Wir alle leben für den Moment. Für den schönen, leidenschaftlichen, besonderen und glücklichen Augenblick. Mit einem 17-köpfigen Musik-Ensemble sicher eine enorme, allein schon organisatorische Herausforderung, die Schönheit eines Moments überhaupt erst herzustellen.
Golden klingt wie das Cinematic Orchestra, Brandt Brauer Frick und The Notwist in der Staatsoper. Und so sieht es aus:
Aber wenn der Gipfel der Schönheit gemeinsam erklommen ist, dann strahlt die Musik larger than life! Majestätisch, großartig oder bombastisch, um hier ein paar Wörter aus den Adjektivkatalog zu bemühen.
Das muss die Motivation aller beteiligten Musiker*innen sein, und auch die ihres Bandleaders Moritz Sembritzki, sich gemeinsam in das Magnetic Ghost Orchestra zu begeben. Zu wissen, das ein musikalisches Kollektiv in dieser Größenordnung mit seinen individuellen Qualitäten am Ende einfach nur fantastisch klingt.
Es ist in diesem Zeiten ja vieles noch komplizierter geworden als es ohnehin schon ist. Dazu gehört sicher auch das Leiten einer Big-Band. Wobei Moritz Sembritzki den Begriff „Big Band“ im Gespräch immer gerne vermeidet, wenn es ums M.G.O. geht, dass im Juni diesen Jahres auf dem Label Fun in the church sein zweites Album veröffentlicht.
Auch wenn er Duke Ellington und Gil Evans zu seine große Vorbildern zählt, ist sein Magnetic Ghost Orchestra eben genauso gut ein großes, experimentierfreudiges Pop-Ensemble, als das es sich als große Jazzband labeln ließe.
Auf diesem Album hören wir neben den besagten Jazz-Elementen auch den Einfluss von Indie-Pop-Bands wie The Notwist oder den großen, Sample-basierten Bristol-Pop der Neunziger Jahre bis hin zum geräuschhaften, elektrisierenden Improv-Jazz der Berliner Gegenwart heraus.
„Der traditionelle Sound einer Big Band verleiht der Musik einen gewissen Vintage-Charakter, weil er sich an zeitgenössischen Elementen reibt“, sagt der Komponist selbst zu seiner Arbeit.
Über allem ragen zwei großartige Sänger*innen, oft zweistimmig im Songvortrag: Fini Bearman, aus dem Jazz und London stammend und mit Aylin Winzenburg eine klassisch ausgebildete, Berliner Opern-Sängerin (Mezzosopran). Ja, das beste aus beiden Welten, wie es so schön heisst.
Die Texte auf dieser Platte stammen von der australischen Songwriterin Alexia Peniguel aka Alex St. Joan, die seit vielen Jahren in Berlin lebt. Zur ihrer Song-Poesie und der gerade äusserst schwierigen weltpolitischen Lage, auch was die Veröffentlichung von neuer Pop-Musik angeht, postete sie zur ersten MGO-Single „Golden“ über ihre Social-Media-Kanäle: „I love this song and not just because I wrote the lyrics to it. To me it’s an orchestral burst of joyful resistance to all that seeks to distract, diminish and destroy“. So heisst es schließlich im Chorus der Songs „Stolen moments, hold’em! Rare and golden. Hold your focus, poet, bold and open…“.
Am Ende fließen auf diesem Album Sounds aus allen möglichen musikalischen Spähren, Genres, Sub-Genres, Kulturen und Nationalitäten zusammen. Sembritzki und seine (Big) Band machen sich in den Stücken immer wieder auf, um neue Grenzen auszuloten. Prozesse, die in der Politik schmerzhafter Weise Jahrzehnte dauern können, lassen sich hier gefühlt in Echtzeit vollziehen. Das Magnetic Ghost Orchestra lädt uns ein und lässt uns teilhaben an diesen vielen, wunderschönen Transformationen.
Selten klang Indiepop so jazzig, war die Klassik so schwungvoll und wirkte der Jazz so vermittelnd wie hier. Ein Werk, dass uns Hoffnung macht, was das Überwinden von kulturellen Abständen und Ressentiments macht.
Insofern unterscheidet sich das Magnetic Ghost Orchestra vielleicht gar nicht so sehr von den Ambitionen der Big Band Musiker*innen aus dem letzten Jahrhunderts. Aber klar, dieser Text wird ihnen sicher nicht als Brief zugestellt. Aber: Es gibt das Magnetic Ghost Orchestra auch auf Vinyl zu erwerben. Und auf die Bühne geht es selbstverständlich auch. Allen Widerständen zum Trotz. Für die Kunst. Und die Kultur. Für uns. Und den nächsten feierlichen Moment.
Magnetic Ghost Orchestra:
Sonja Horlacher – Flute
Andreas Böhlen – Alto Sax, Clarinet
Kati Brien – Alto Sax, Clarinet
Markus Ehrlich – Tenor Sax, Clarinet
Hannes Daerr – Tenor Sax, Clarinet
Damir Bačikin – Trumpet
Johannes Böhmer – Trumpet
Nils Marquardt – Trombone
Andrej Ugoljew – Trombone
Matthew Bookert – Tuba
Aylin Winzenburg – Vocals
Fini Bearman – Vocals
Moritz Sembritzki – Guitar
Willi Sieger – Synth, Electronics
Bernhard Meyer – Bass
Janis Albert Görlich – E Drums, Electronics
Max Santner – Drums

Tracklist
Magnetic Ghost Orchestra
Humn
Humn Part II
Rain Is Pattering
Golden
Interlude I
Slowly
Rinning From The Pockets
Humn Part III
Men Explaining Things
Interlude II
Giftig Aqua